Legalisierung des Cannabiskonsums und Auswirkungen auf unsere Kinder und Jugendlichen

Legalisierung des Cannabiskonsums und Auswirkungen auf unsere Kinder und Jugendlichen

Ein Interview mit Chefarzt Dr. Ekkehart Englert (Helios Klinikum Erfurt)

Dr. Ekkehart Englert ist Chefarzt am Helios Klinikum in Erfurt. Dort ist er tätig in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie in der Psychotherapie und der Psychosomatik.Das Interview wurde am 3. Januar 2022 durch die Vorsitzende des SuPEr e.V., Prof. Dr. Marion Eich-Born, geführt.


In unserer gesellschaftlichen Realität, wie es selbst eine Stellungnahme aus Ihrem Fachärzteverbund darstellt, sind illegale Drogen längst bei Kindern und Jugendlichen angekommen. Nun steht die Legalisierung von Cannabis für Erwachsene nach dem Regierungswechsel in Berlin vor der Tür. Die Grünen betonen in diesem Zusammenhang, einen strikten Jugendschutz gewährleisten zu wollen. Wie sehen Sie als Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Heliosklinikums hier in Erfurt diese Legalisierungsabsicht mit Blick auf diese Altersgruppe?

Das sehe ich sehr, sehr kritisch. Es ist zu erwarten, dass das passiert, was auch in anderen europäischen Ländern mit ähnlicher Legalisierungspolitik schon längst passiert ist: Die Konsumraten werden bei Erwachsenen ansteigen, die Cannabis legal erwerben können. Aber auch bei Kindern und Jugendlichenwird die Konsumrate zunehmen. Warum? Den Jugendschutz strikter fassen zu wollen, das ist aus meiner Perspektive eine reine Feigenblattäußerung, weil ihm das wichtigste Mittel aus der Hand geschlagen wurde. Im Grunde genommen ist es dann Jugendlichen nicht mehr vermittelbar, warum Cannabiskonsum für den17-jährigen schädlicher sein soll als für einen 18,5-jährigen.Der eine darf den Stoff in der Apotheke erwerben, der andere noch nicht. Im Übrigen werden wir erleben, dass von den Älteren der Stoff gegen einen kleinen Aufpreis an Jugendliche weiterverkauft wird, etwa auf dem Schulhof… Auch für den Apotheker ist die Legalisierung ein Problem. Er kann zwar den Ausweis des Kunden kontrollieren, bekommt aber nicht mit, ob vor der Apothekentür das Zeug weitergereicht wird.Die Zahlen, die mir aus den USA vorliegen, die zeigen das eindeutig. Damit in Verbindung steht das grundsätzliche Signal an die Bevölkerung: Cannabis ist so harmlos, dass man es in der Apotheke verkaufen kann. Es hat somit eher den Anschein eines Medikaments, das für viele Leiden erfolgreich eingesetzt werden kann. Selbst Ärztezeitungen sind voll von Werbeanzeigen börsennotierter Firmen, die THC anpreisen für ADHS, für verschiedene Krebsleiden und viele andere Krankheiten. Mächtige Konzerne stehen in den Startlöchern, um ihre Märkte zu erweitern.

Nun haben Sie als Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie erhebliche Erfahrungen sammeln können, wie sich in den letzten Jahren der Drogenmarkt für diese Altersgruppe in Thüringen entwickelt hat. Was sind die gängigen Drogen und welche gesundheitlichen und leistungsbezogenen Wirkungen konnten Sie bei Jugendlichen feststellen?

Mit weitem Abstand sind es Cannabisprodukte. Ansonsten auch Stimulantien aller Art wie Crystal Meth und damit verwandte Substanzen sowie Ecstasy.

Hinsichtlich der Wirkungen sind die psychosozialen Folgen deutlich schneller als die medizinischen ersichtlich. Dazu zählen Verwahrlosung und Vernachlässigung, mangelnde Teilhabe an Alltagsaktivitäten, Rückzug. Auswirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit stehen wieder im Zusammenhang mit den medizinischen Folgen: Nachlassen von Merkfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnisleistung, vor allem des Kurzzeitgedächtnisses.

Bei regelmäßigem Konsum von THC-haltigen Drogen (Cannabis) kommt es zu massiven kognitiven Einbußen, die zu einem starken Absinken der schulischen Leistungen bis hin zum Aussetzen des Schulbesuchs führen können. Dann bleibt man zu Hause, versucht an neue Substanzen zu heranzukommen und die Abwärtsspirale nimmt Fahrt auf. Jugendliche dann wieder für die Schule und Ausbildung zu motivieren, ist nicht mehr so einfach.

Das Psychoserisiko wird in der Literatur im Zusammenwirken mit dieser Altersgruppe in der Literatur immer wieder beschrieben.In der Stadt Erfurt und im Ilmkreis, wo wir als Helios Klinikum zuständig sind, spielen jedoch Psychosen in dieser Altersgruppe noch keine größere Rolle. Das mag im Erwachsenenalter, ab 18 Jahren, anders aussehen.

Letzteres kann ich wiederum bestätigen. Bei Studenten, die in der Coronazeit isoliert in ihren Studentenzimmern arbeiten, lediglich über Zoomkonferenzen mit ihren Dozenten und Kommilitonen verbunden sind, hat sich neben Cannabis insbesondere Crystal Meth verbreitet, um die Einsamkeit abzufedern und die persönliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Da sind mir einige Fälle bekannt geworden, bei denen Psychosen eine Rolle spielen. Das trifft u.a. auch auf ADHS-Patienten zu.

Menschen mit ADHS haben per se ein höheres Risiko, in irgendeiner Weise zu Drogen zu greifen, egal welche. Das läuft wahrscheinlich über die Schiene des sogenannten Risikoverhaltens. Menschen mit ADHS sindeher extrovertiert. Sie langweilen sich schneller, wollen lieber etwas Spannendes machen und neigen dann zum klassischen Risikoverhalten. Da gehört dann alles dazu, ob man nun Extremsportarten oder Wettrennen macht mit Autos auf der Autobahn oder Drogen konsumiert, oder ob man irgendwie sonst etwas Spannendes macht, das Abwechslung verspricht. Im Gegensatz dazu zeigen Menschen, die eher ängstlich und zurückhaltend sind, also Angst haben etwas Neues zu machen, eine geringere Wahrscheinlichkeit auf illegale Drogen zurückzugreifen oder sonstige gefährliche Aktivitäten anzugehen.

Viele wissen gar nicht, was eine Psychose überhaupt ist. Können Sie das in wenigen Worten einmal erklären, so dass Jugendliche verstehen, was da entstehen könnte?

Das ist schwierig. „Psychose“ ist ein Oberbegriff für eine ganze Reihe schwerster psychiatrischer Erkrankungen, die eines gemeinsam haben: Sie verändern sozusagen den ganzen Menschen, die Persönlichkeit, vor allem aber die Realitätswahrnehmung. Wie ich also meine Umwelt erlebe, wie ich Reize, etwa akustische, optische, sonstige Reize wahrnehme, wie ich Beziehungen empfinde. All diese Dinge werden durch eine Psychose grundlegend beeinträchtigt.

So dass plötzlich Freunde und Verwandte als Feinde gesehen werden können, dass Menschen verdächtig erscheinen, Dinge plötzlich eine andere Bedeutung bekommen, ganz wichtig oder ganz unwichtig werden, man vielleicht Dinge hört, die nicht da sindoder Dinge sieht bzw. riecht, die nicht existent sind.

Das kann alle Sinnesebenen betreffen, bis hin zu Körperempfindungen. Dass man das Gefühl hat, da laufen Spinnen über den eigenen Körper oder die Hausdiele, die gar nicht da sind. Es kann sich auf allen Ebenen die komplette Wahrnehmung massiv verändern. In der Regel ist das für die betroffenen Menschen sehr quälend und bedrohlich. Das ist überhaupt nichts Lustiges.

Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten auf Heilung ein?

Na ja, wenn eine Psychose mal da ist, ist sie schwer zu behandeln. Es ist in der Regel so, dass die akute Symptomatik schizophrener Psychosen in der Mehrzahl gut auf medikamentöse Behandlungen anspricht. Die Gefahr ist aber – das weiß man nie im Voraus – dass es nicht bei der einen Episode bleibt, sondern dass man lebenslang immer wieder damit zu tun hat. Entweder, dass immer wieder solche Phasen kommen oder dass sich die Psychose nie wieder ganz zurückbildet und doch ein Boden an Restsymptomatik lebenslang bleibt, einschließlich kognitiver Einbußen und Veränderungen, was Antrieb, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsmöglichkeiten, Leistungsfähigkeit betrifft. Es ist nicht vorherzusagen, wer wie am Ende welchen Verlauf entwickeln wird. Es gibt gewisse Wahrscheinlichkeiten, aber auf den Einzelfall bezogen ist es nach wie vor nicht abschätzbar, wennjemand an einer akuten Psychose erkrankt, ob das eine einmalige Episode bleibt, der Betreffende vollkommen gesund sein Leben wieder aufnimmt, wie es vorher war, oder ob es ein lebenslanges Thema bleiben wird.

Spielt bei Jugendlichen, Gruppendruck aus der Altersklasse, der Peer Group, eine besondere Rolle bei der Versuchung, Drogen auszuprobieren? Im Sinne von "chill doch mal" oder „mach dich mal locker“?

Das kann man nicht verallgemeinern, weil es sehr darauf ankommt, in welchen Sozialräumen Jugendliche sich bewegen.Ist es ein geordnetes, eher leistungsorientiertes Umfeld, wo hoher Leistungsdruck da ist, es darauf ankommt, besonders toll und brillant zu sein in der Schule. Oder ist hoher Druck da in Richtung Mode, also schick sein und Markenmode zu besitzen. Oder ob der Druck in eine andere Richtung geht, etwa sich bei riskanten und/oder illegalen Aktivitäten zu übertreffen, oder die Zielmarken anderer Subgruppen zu verfolgen. In diesem Fall spielt sicherlich der Druck der Peer Group eine Rolle. Das Thema Peer-Group-Einfluss ist eher eine Frage der Milieuspezifik.

Zu diesem Thema gibt es statistische Analysen, die klar belegen, wie das Umfeld Kinder und Jugendliche bei ihren Entscheidungen beeinflusst. Wenn ich in meinem Umfeld eher Menschen kenne, die Drogen konsumieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit selbst, welche zu probieren, höher, da die Hemmschwelle durch „Vorbilder“ und leichte Verfügbarkeit niedriger ist. In einem komplett anderen Milieu, wo keiner Drogen nimmt, wüsste der Jugendliche nicht, wen er überhaupt ansprechen sollte, um an Drogen heranzukommen.

Sie sprachen bereits die Erfahrungswerte anderer Länder an, die bereits Legalisierungserfahrungen mit Cannabis haben. Welche gesellschaftlichen Folgewirkungen wurden dort beobachtet?

Es sind vor allen Dingen Erfahrungswerte aus den USA und Kanada. Der schon von mir erwähnte Konsumanstieg ist mit einer erheblich abgesenkten Risikowahrnehmung bezüglich gesundheitlicher Gefahren verbunden. Die legal in der Apotheke erworbenen Substanzen werden an Jugendliche weitergereicht, was kaum zu verhindern ist. Das kann privat im eigenen Haushalt passieren, weil es Eltern gibt, die selbst noch sehr pubertär geblieben sind, die lustig zusammen alle Substanzen konsumieren und sie an die Kinder weitergeben, wie wir das ja schon bei Zigaretten und Alkohol sehen.

Es können auch Erwachsene sein, die Geld damit verdienen, die häufig Apotheken aufsuchen und Cannabis dann gegen einen Aufpreis an Kinder weitergeben. Die Annahme, dassin dem Moment, wo man Cannabis legalisiert, sich Drogenhändler beim Arbeitsamt arbeitslos melden und Hartz IV beantragen, weil sie kein Geld mehr verdienen, ist sehr naiv.

Durch die Freigabe von Cannabis ist übrigens auch in den Niederlanden der Schwarzmarkt gewachsen. Da Drogen in der Apotheke nicht zum Nulltarif abgegeben werden, bieten Schwarzmarktakteure ihre Produkte etwas billiger an, dafüraber mit wesentlich höherem THC-Gehalt. Dazu werden die Cannabispflanzen mit chemischen, den Wirkungsgrad erhöhenden Stoffen besprüht. Entgegen der politischen Intention weisen die Beispielländer keinen schrumpfenden, sondern einen wachsendenillegalen Markt auf. Dort stehen sich legal agierende Konzerne und illegal agierende Drogenküchen im Wettbewerb gegenüber. Letztere sind besonders erfinderisch darin, Jugendlichen reizvollere Varianten anzubieten, die noch einen besseren Kick versprechen. Oder ihr Angebot liegt deutlich unter den Apothekenpreisen. Gegebenenfalls werden neue Substanzen entwickelt, die in der Breite vertrieben werden, in der Hoffnung, dass dann die nächste Bundesregierungauch diese legalisiert.

Wie beurteilen Sie Interventionserfolge beim Thema Cannabiskonsum in unserer Gesellschaft von heute? Kann man leicht wieder aussteigen, wenn die Legalisierung es dem einzelnen leicht macht, Cannabis zu erwerben? Was bedeutet die Legalisierung hinsichtlich der Zielstellung für unsere Präventionsarbeit? Welche Konsequenzen hat die Legalisierung für unsere technologieorientierte Gesellschaft?

Zum ersten Teil der Frage, dem Ausstiegserfolg aus der Droge für den einzelnen. Das ist schwierig. Das ist einerseits vom Umfeld, andererseits von der Motivation, etwas nicht mehr konsumieren zu wollen, abhängig. Insbesondere wenn der Alltag nach kurzer Zeit wieder als trist und grau empfunden wird, dann ist die Versuchung groß, sich wieder Abwechslung zu verschaffen. Dies ist umso leichter, wenn Cannabis einfach verfügbar ist.

Zum zweiten Teil der Frage: Welche Zielstellung hat dann eigentlich noch die Präventionsarbeit? Will man einen legalen Konsum erreichen? Kann unter diesen Voraussetzungen Abstinenz überhaupt noch ein Therapieziel sein? Zumal viele Menschen damit argumentieren, dass Cannabisprodukte eher gesundheitsförderlich seien, indem sie angeblich bei allen möglichen Erkrankungen helfen. Vor dem Hintergrund der enormen Werbekampagnen in Ärztezeitschriften würde Cannabiskonsum dann irgendwann zu einem gesunden Lebensstil zählen. Das ist eine durchaus spannende Diskussion. Worauf sollte dann die Intervention, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, oder die Prävention abzielen?

Und nun zum dritten Teil der Frage: Wir leben in unserem High-Tech-Standort Deutschland nicht auf oder unter den Bäumen.Da müssen Autos bedient werden, Flugzeuge,Taxis, Busse und Straßenbahnen gesteuert werden. Die verantwortlichen Fahrer und Pilotenmüssen hoch aufmerksam unterwegs sein. Wir können es uns eigentlich nicht leisten, dass ein zunehmend größer werdender Teil der Bevölkerung im ständig „bematschtem“ Zustand mitKonzentrations- und Aufmerksamkeitsproblemen unterwegs ist.

Wer am Samstag Party feiert und größere Mengen THC raucht,ist am Montag nicht arbeitsfähig, bezüglich der Bedienung von Geräten,Apparaturen, der Steuerung von Fahrzeugen oder gar öffentlichen Verkehrsmitteln. Cannabis hat schlicht und ergreifend eine sehr lange Halbwertzeit, die immer wieder unterschätzt wird. Im Gegensatz zu hohem Alkoholkonsum, der am Samstagabend genossen wird und bis Montag im Blut nicht mehr nachweisbar ist, ist beim THC-Konsument vom Samstag die Droge einschließlich ihrer Effekte bis Dienstag oder Mittwoch immer noch nachweisbar.Wenn der Konsument dann noch am Montag einen ICE steuern oder einen Schulbus fahren soll, dann ist das von erheblicher Sicherheitsrelevanz.

Um diesen gesellschaftlich nicht gewünschten Effekten entgegenzutreten,müssten massivste Kontrollen bei Menschen durchgeführt werden, die gefährliche Geräte bedienen, z.B.in Kraftwerken arbeiten, an Automaten sitzen oder Fahrzeuge führen. Gesellschaftlich würden wir wieder stark in Überwachungsmechanismen kommen, was im Gegenzug demonstrativ zu Protesten antreibt, wie wir sie im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen erleben.

Das Ganze ist also höchst problematisch, denn wir sitzen alle nicht nur am Strand und schauen unser Leben lang aufs Meer. Das ist eben der Unterschied, wenn man in einer Zivilisation lebt, wo es auf die Konzentrationsfähigkeit, die Aufmerksamkeit im Alltag ankommt, wo man wissen muss, wie im Einzelfall reagiert werden muss, wie wir den Überblick über herausfordernde Situationen bewahren können. Das ist jedoch mit THC im Körper schwierig.

Im europäischen Vergleich, so heißt es in der Stellungnahme der vier deutschen Berufsverbände für Kinder- und Jugendpsychiatrie, kinder- und jugendmedizinischen Fachverbände, haben die Deutschen bereits vor der Legalisierung von Cannabis für Erwachsene die höchste Zahl der klinisch zu behandelnden Cannabisnutzer. Das lässt ja nichts Gutes erwarten, wenn wir den Cannabiskonsum legalisieren.

Ja, wir sollten eigentlich den Antrag für mehr Betten stellen in unseren Kliniken. Wobei andererseits die Frage ist, ob die Drogenfreiheit dann überhaupt noch als Therapieziel anzusehen ist. Das war ja bisher so, aber vielleicht ist das altmodisch gedacht. Wir reden im Fall der Legalisierung vom nicht riskanten Konsum. Aber auch dieser wird sich auf das Versorgungssystem auswirken. Ob sich auch die Rate an Psychoseerkrankungen erhöhen wird, ist schwer vorhersehbar. Aber natürlich wird die Arbeitsunfähigkeit steigen. Ich weiß nicht, ob das so wünschenswert ist.

Was würden Sie denn aus Ihrer heutigen Perspektive und Berufserfahrung Eltern raten? Was können wir gesellschaftlich überhaupt tun, um unsere Kinder zu schützen?

Schwierig, das wichtigste ist das Umfeld. Es kommt darauf an, in welcher Gegend wohne ich, auf welche Schule geht mein Kind, mit welchen Kindern und Jugendlichen hat es zu tun. Das sind ganz entscheidende Faktoren. Aber gegen manches ist man selbst vollkommen machtlos. Wenn an der Schule Jugendliche Drogen verteilen, können Eltern höchstens versuchen, ein anderes Umfeld zu finden, soweit das überhaupt möglich ist. Insofern ist es auch eine gesellschaftliche Aufgabe, zu sehen, wo bilden sich welche Milieus heraus, wo muss mehr kontrolliert werden, was wollen wir erreichen.

Natürlich wird sich im Zeitalter der Individualisierung die gesellschaftliche Schere immer weiter auftun, auch sozial. In diesem Sinne wird es sich nicht jeder leisten können, sein Kind auf eine Privatschule zu schicken, weil er hofft, damit ein sicheres Umfeld bieten zu können. Und die es sich nicht leisten können, müssen dann mit staatlichen Schulen in ihrem Wohnbezirk vorliebnehmen. Eine neue Wohnung in einem anderen Viertel werden sie sich nicht leisten können. Das ist also ganz schwierig.

Innerhalb der Familien wird es darauf ankommen, den Gesprächsfaden untereinander nicht abreißen zu lassen, was ja ganz oft gerade in der Pubertät passiert. Die Kommunikation funktioniert oftmals nicht mehr, was sich über Türen knallen, im Zimmer einschließen, sich verweigern ausdrückt. Problematisch wird es, wenn Eltern nicht mehr mitbekommen, was in dem Jugendlichen gerade so vorgeht, was ihn im Kopf bewegt. Es bedarf eines entsprechenden Geschicks, in der Kommunikation zu bleiben,um so problematische Entwicklungen frühzeitig mitzubekommen.

Lehrer, die ihre Schüler im Unterricht und im Klassenverbund erleben, tragen innerhalb dieses Funktionsrahmens eine besondere Verantwortung. Erst recht, wenn es um das Thema Drogenkonsum in der Altersgruppe bzw. auch an der Schule selbst geht. Was raten Sie Lehrern oder Schulen, wie mit dem Thema Drogen umgegangen werden sollte?

Schule ist generell neu zu denken als Lebensraum. Sie hat, wie wir alle in der Corona-Pandemie feststellen mussten, einen Auftrag, der weit über die zu Kaiser-Wilhelms-Zeiten fokussierte Wissensvermittlung hinausgeht. Die Pandemie hat förmlich wie unter einem Brennglas die vielen Lebensraumkomponenten deutlich gemacht. Da sind neben der Kinderbetreuung während der elterlichen Arbeitszeiten, die Entwicklung von sozialen Gewohnheiten, Team- und Kooperationsfähigkeiten, Selbstvertrauen, Verantwortungsbewusstsein, eines Werteverständnisses, Zukunftsorientierung, Orientierung auf Problemlösungen, und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Herausforderungen auf dem Drogenmarkt eines Gesundheits- und Körperbewusstseins zentrale Bausteine. Dementsprechend müsste Schule als Lebensraum gestaltet werden, wo Dinge wie Gesundheitserziehung mit Sport, Bewegung, gesundem Schulessen, Ernährungslehre, Gestaltung eines Tagesrhythmus ebenso wie alle anderen bereits genannten Lebensraumbausteine systematisch vom Kindergarten an bis zum Schulabschluss professioneller Begleitung bedürfen.

Auch im Zusammenhang mit der ganzen Diskussion, die es jetzt um Corona, um das Impfen gibt: Schule muss eine Diskussionskultur pflegen und zwar aktiv. Das wird bislang nur unzureichend kultiviert. Wie diskutieren wir angemessen? Hören wir einander angemessen zu, auch wenn wir mit gegenteiligen Meinungen konfrontiert werden? Können wir den Andersdenkenden akzeptieren? Können wir Argumente auf der Sachebene austauschen und sie entsprechend reflektieren? Demokratie lebt von gelebter Kommunikations- und Kompromissfähigkeit sowie daraus resultierender geschlossener Handlungsfähigkeit. Diese Kompetenzen tragen zu einer Perspektiverweiterung bei und damit auch zu einem kritischen Umgang mit der Frage, lasse ich mich auf den Konsum von Drogen ein. Gerade in den bildungsferneren Landesteilen wird deutlich, wie dringend notwendig das ist.

Im Rahmen der von ihnen vorgeschlagenen systematischen Gesundheitserziehung wäre vor dem Hintergrund der Liberalisierung von Cannabis die Präventionsarbeit zu verstärken, so wie es die Grünen auch beabsichtigen. Was müssen wirkungsvolle Präventionsprojekte aus Ihrer Sicht mitbringen?

Da unsere Jugendlichen sehr unterschiedlich sind, müssen wir ein breites Spektrum von Projektlinien zur Verfügung stellen, damit wir die verschiedenen Persönlichkeitstypen mit den Botschaften auch erreichen. Ich kann also nicht nur ein Instrument nehmen und sagen, das ist für alle richtig, sondern man muss ein breites Repertoire haben, um zu sehen, was spricht den einen an, was den anderen.

Es liegt in unserer deutschen Mentalität, bei Projekten bevorzugt die intellektuelle Ebene durch Sachinformationen zu bedienen, also durch sachliches Argumentieren mit erstens, zweitens, drittens…. Das hat durchaus seine Vorteile, aber bei Kindern und Jugendlichen funktioniert das meist nicht so gut. Ein wichtiger Schlüssel, um Jugendliche mit zentralen Botschaften erreichen zu können, ist die emotionale Komponente. Wenn es gelingt, Jugendlichen auf der Gefühlsebene zu begegnen, ist die pädagogische Erfolgsaussicht erheblich größer. Wir müssen sie emotional erreichen, die muss man beeindrucken mit etwas, etwa einem Event, etwas, das im Kopf bleibt, das hängen bleibt, wo man große Ah!-und Oh!-Effekte hat, wo die Jugendlichen hinterher beeindruckt herausgehen und sagen: Das war jetzt toll, das war spannend. Das habe ich jetzt irgendwie geschnallt. Die Sachargumente müssen quasi nebenbei mitlaufen. Aber der Schlüssel geht über das Emotionale, wovon Jugendliche beeindruckt sind und nicht sagen, da hat uns schon wieder jemand einen halbstündigen Vortrag gehalten und etwas geschwätzt, wovon ich eh` keine Ahnung habe/worauf ich eh keine Lust habe.

Sie hatten vor zwei Jahren doch den Revolution Train, den Anti-Drogen-Zug, besucht, den unser Verein für fünf Tage für die weiterführenden Schulen bestellt und finanziert hat.Wenn ich mir dieses Präventionsinstrument noch einmal vor Augen führe, entspricht es weitestgehend den von Ihnen angesprochenen Anforderungen. Die Schüler werden vorrangig auf der emotionalen Ebene angesprochen, indem sie in Filmsequenzen von Waggon zu Waggon die authentische Geschichte von sechs gleichaltrigen, sehr unterschiedlichen Jugendlichen erleben, die mit Drogen in Kontakt kommen, dementsprechend unterschiedlich darauf reagieren, vom klaren nein bis hin zum Goldenen Schuss. Nach jeder Sequenz hebt sich die Leinwand und dahinter treffen die Besucher auf einen nachgebauten Standort aus dem Film, wo sie in Rollenspiele integriert und zur Diskussion von Handlungsalternativen angeregt werden. Hier wird das von ihnen angeregte „im Gespräch bleiben“, eine Diskussionskultur einüben aufgegriffen mit dem Ziel, die eigenen Handlungen und Verantwortlichkeiten zu reflektieren. Außerdem werden die Schüler auf allen Wahrnehmungsebenen angesprochen, quasi ein Event, außerschulisch, das visuell, akustisch, olfaktorisch und kinästhetisch die Aufmerksamkeit banntz.B. über die Innenwandausgestaltung des Zuges, die das Innenleben des menschlichen Körpers mit Organen, Blutbahnen darstellt und sich von Waggon zu Waggon mit zunehmendem Drogenkonsum verändert. Oder das Drogennest, das in beeindruckender Weise real den Lebensraum von stark drogenabhängigen Menschen aufzeigt. Oder aber die Ansprache der Besucher durch einen „Kapuzenmann“ auf einem Bildschirm, dessen Gesicht nicht zu erkennen ist, der sie mit der Ankündigung seiner Lebensgeschichte emotional in Bann zieht. Am Ende des Zugbesuchs stellt sich heraus, dass er nicht mehr lebt, aber seine Stimme den Jugendlichen deutlich, dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben haben, für das Gleis, auf das sie ihren Lebenszug setzen.

Ja, das Beeindruckende dieser Inszenierung ist, dass in der Dramaturgie Abschnitte so angelegt sind, dass die einzelnen Abteilungen emotionale Steigerungen enthalten: eine Bar, ein Unfallstandort mit einem Toten und Verletzten, eine Gerichtsverhandlung, ein Gefängnis, ein Verhörraum, ein Drogennest und schließlich die Todesstelle des Kapuzenmannes. Das ist wirklich gut und professionell gemacht, eine hohe Intensität des Handlungsablaufs, die die Jugendlichen emotional in Beschlag nimmt. Da die Jugendlichen heutzutage so viel von Actionfilmen gewohnt sind, muss man mit Präventionsinstrumenten schon ziemlich viel aufbieten.Das tut der Zug.Im Übrigen betreibt der Zug Prävention bezogen auf den Sozialraum, indem die Schüler im Klassenverband das Erlebnis gemeinsam erfahren und diskutieren. Das Ziel dieses Instruments ist klar, dass möglichst wenig oder gar nicht konsumiert wird.

Was empfehlen Sie der Politik im Zusammenhang mit den jüngsten Bestrebungen der Legalisierung von Cannabiskonsum?

Wir müssen die gesellschaftliche Diskussion zum Thema noch einmal neu aufmachen und zwar unter dem Tenor, welche Ziele Prävention zukünftig noch verfolgen soll. Ich sage bewusst Ziele, denn wenn in Zukunft Cannabis legal über den Apothekentisch bezogen werden kann, müssten zwangsläufig einzelne Aspekte der bisherigen Zielhierarchie herausgenommen werden. Das betrifft insbesondere die von der Neuerung ausgehenden Signale zum Thema gesunde Lebensführung, wenn der Apotheker THC empfiehlt. Welche Aspekte das sein könnten, muss gesellschaftlich diskutiert werden: z.B. Schmerzsymptomatik, ADHS-Symptomatik. Dazu gehört aber auch, die unterschiedlichen Interessen der Anbieter transparent zu machen, von Pharmakonzernen, Verdienstmöglichkeiten von Apothekern… Ganz wichtig ist aus meiner Sicht die Diskussion aus der gesellschaftlichen Funktionsperspektive heraus. Wenn so viele Leute „bematscht“ sind, kann dann unser komplexes gesellschaftliches System überhaupt noch funktionieren? Klar ist, dass wir in unserer Hochtechnologiegesellschaft hohe kognitive Voraussetzungen brauchen, um die Funktionsfähigkeit unseres gesellschaftlichen Lebens zu garantieren.Die jüngere, geplante Erweiterung des Revolution Train kann mit dem digitalen Lebensbaum und der Diskussion der Besucher über ihre Lebensziele und Werte in unserer hochtechnologischen Welt einen wichtigen Beitrag leisten.


Herr Dr. Englert, der SuPEr e.V. bedankt sich sehr herzlich bei Ihnen für Ihre Zeit und die Einsichten in Ihre berufliche Erfahrungswelt.


Bildquelle: Helios Klinikum Erfurt